Die Wissenschaft der Kräuter

Über Küchenkräuter, die Geschichte der Pharmakologie, asiatische Kräuterkunde, Bachblüten oder wie wir uns die Heilkraft der Kräuter wieder zunutze machen können.

Welche Heilkräuter haben Sie zuhause? Möglicherweise mehr als Ihnen auf den ersten Blick bewusst ist. In einem durchschnittlichen Haushalt finden sich vielleicht Pfeffer, Rosmarin, Oregano und Lorbeerblätter im Gewürzschrank, und Kamille, Pfefferminz, Salbei oder einfach ein undefinierte Kräutermischung für gute Laune in der Teebox. Der Kühlschrank oder das Fensterbrett stellen bisweilen Petersilie, Schnittlauch und Basilikum zur Verfügung. Letztere gelten als Küchenkräuter, aber ihnen werden auch verschiedene Heilwirkungen zugeschrieben. Schnittlauch wirkt gegen Magenbeschwerden und senkt den Blutdruck, Basilikum regt die Verdauung an, und Petersilie ist nicht nur eine Vitamin-C-Bombe, sondern hilft auch bei diversen Herzbeschwerden.
„Gott hat für jede Krankheit eine Pflanze wachsen lassen. Sehet Euch um in der Natur und schöpft aus der Apotheke Gottes“, soll der schweizerisch-österreichische Arzt und Alchemist Paracelsus gesagt haben, und das alte Sprichwort „gegen jedes Leid ist ein Kraut gewachsen“, stammt angeblich von Hildegard von Bingen. Sicher ist, dass sich jede ganzheitliche Gesundheitslehre auch auf die Heilwirkung von Kräutern und Pflanzen stützt. Darüber, ob die Pflanzenheilkunde oder Phytotherapie nun der Schulmedizin, der Komplementärmedizin oder der Naturheilkunde zugeordnet werden soll oder nicht, herrschen unter den Experten unterschiedliche Meinungen. Apotheker und Ärzte warnen jedenfalls vor einer unkritischen Anwendung. Denn auch Pflanzen können giftig sein, Nebenwirkungen haben oder mit anderen in Wechselwirkung treten. Mit all dem beschäftigt sich auch die Pharmakologie, die selbst geht auf die Kräutermedizin zurück geht.
Bis ins 20. Jahrhundert wurde die „Materia Medica“, eine historische Textsammlung, als Nachschlagewerk für die Wirkung von Substanzen aus den drei Naturreichen Pflanzen, Tiere und Mineralien herangezogen. Im 18./19. Jahrhundert machte man sich auf die Suche nach den Essenzen, den Wirkstoffen in den Kräutern. 1804 wurde erstmals Morphin aus Opium isoliert. Bis zur Aufstellung der korrekten Formel vergingen allerdings noch einige Jahrzehnte. Die Isolierung von Morphin diente als Vorbild für weitere synthetisierte organische Arzneistoffe und leitete eine Wende in der Arzneimitteltherapie ein. Aus kräutermedizinischer Sicht verleiht gerade das Zusammenspiel sämtlicher Inhaltsstoffe einschließlich ihrer Ballaststoffe den Heilkräutern ihre spezifische Wirkung. Aus der Sicht der Schulmedizin lassen sich Kräuter im Gegensatz zu synthetisierten Arzneimitteln aber nie exakt dosieren, weil Inhaltsstoffe und Dosierung variieren und von zahlreichen Faktoren abhängen.
In dem Maße, in dem das mechanistische Prinzip der Kausalität durch eine komplexere und systemischere Sichtweise erweitert beziehungsweise abgelöst wird, steigt auch das Interesse an Kräutern wieder. Nachdem sich die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) auch im Westen weitgehend etabliert hat, besinnt man sich in Europa vermehrt auf die eigenen Wurzeln. Auch die Traditionelle Europäische Medizin (TEM) greift auf das uralte Wissen von Wirkungsweisen, Inhaltsstoffen, Pflanzenfamilien und Verarbeitungsmethoden von Kräutern zurück. Diese können als Tees, Tinkturen, Salben, Destillate, Sirup und Essenzen ebenso wie Zäpfchen, Räucherwerk oder feinstoffliche Pflanzenheilmittel verabreicht werden.
Salbei gegen Halsschmerzen und Fenchel gegen Unterleibsschmerzen einzusetzen, spiegelt unser Denken in Ursache und Wirkung wieder. Es geht aber noch ganzheitlicher und komplexer. Für die Behandlung nach der TCM oder TEM werden spezifische Kräuter nicht auf Grund der Beschwerden sondern individuell auf Basis der Konstitution des Patienten zusammengestellt. Die „Materia Medica“ der TCM umfasst über 40.000 Rezepturen und mehrere Tausend Einzelkräuter – von denen etwa 500 in Österreich zugelassen sind. Die Wirkungsweise der Kräuter wird in Primär- und Sekundärqualitäten unterschieden. Zu den Primärqualitäten zählen die fünf Geschmacksrichtungen – sauer, bitter, süß, scharf und salzig – welche die Grundwirkung eines Krautes beschreiben. Der saure Geschmack wirkt zusammenziehend und -haltend, der bittere Geschmack austrocknend, beruhigend und entzündungshemmend, der süße befeuchtend und entspannend. Der scharfe Geschmack wirkt zerstreuend und wärmend, und der salzige nährt das Yin und wirkt aufweichend. Weitere Primärqualitäten der Kräuter sind ihre thermische Wirkung – nämlich heiß, warm, kühl und kalt – und ihre Toxizität. Kräuter zeichnen sich außerdem durch ihre Wirkrichtung aus, etwa aufsteigend, fallend, zerstreuend und zusammenziehend – neben ihrem Bezug zu den inneren Organen eine ihrer Sekundärqualitäten. Heiße Kräuter wie Pfeffer, Ingwer und Zimt wirken zum Beispiel erwärmend und schmerzstillend. Sie werden etwa beim Ausbruch von Infektionskrankheiten eingesetzt. Kalte Kräuter wie Enzianwurzel und Löwenzahn leiten Hitze aus und wirken abführen, entgiftend und entzündungshemmend. Kaffee etwa, um noch ein Beispiel zu nennen, ist bitter und wirkt fallend. Ursprünglich wurde er als Antiasthmatikum verwendet.
Gerade die TCM hält aber auch zunehmend Einzug in die moderne Wissenschaft. Im Jahr 2015 gab es etwa den Medizinnobelpreis für ein Phythoprodukt aus der TCM. „Medizinnobelpreis und traditionelle chinesische Medizin, wie geht das zusammen“, fragten sich damals viele. Besteht nicht ein Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Schulmedizin und TCM? Das von Frau Professor Tu Youyou und ihrem Team entdeckte Mittel zur Behandlung von Malaria bezeichnete sie selbst als „ein Geschenk der traditionellen chinesischen Medizin an die Menschen der Welt“.
In der Tibetischen Medizin werden noch weitere Wirkmechanismen beschrieben. Neben dem Geschmack wird auch der Geruch als Wirkfaktor berücksichtigt, es wird unterschieden zwischen einer innewohnenden Kraft, einer antagonistischen Wirkung und der Wirkung, die auf Ähnlichkeit beruht. Bei der Ähnlichkeit wird wiederum in ähnliche Art und ähnliche Form unterschieden. Außerdem ist es von Belang, in welcher Umgebung zueinander Pflanzen wachsen und welcher Teil der Pflanze benutzt wird. Zu guter Letzt kann die Wirksamkeit der Kräuter durch Gebete erhöht oder verändert werden.
Streng wissenschaftsgläubigen Pharmazeuten mag dies ein mildes Lächeln entlocken, aber dasselbe Prinzip findet sich in vielen Zugängen zu pflanzlichen Produkten wieder. Sibirisches Zedernnussöl zum Beispiel soll nicht nur durch seine Aminosäuren, Spurenelemente und Vitamine besonders immunkraftfördend, verjüngend und regulierend wirken, sondern auch, weil die Erntenden auf ihren Gemütszustand beim Sammeln der Zedernüsse achten.
Dass die Art und Weise, wie wir mit einer Pflanze in Beziehung treten einen Einfluss auf ihre Wirkung hat, dass es der Natur nicht gleichgültig ist, wie wir ihr begegnen, impliziert, dass diese über eine Art Bewusstsein oder Seele verfügt. Man nennt dies einen animistischen Zugang. In der sibirischen Taiga mit ihrer schamanistischen Tradition mag dies nicht weiter verwundern.
Aber auch in unseren Breiten gab es schon zur Hochzeit des kausalen Denkens Verfechter dieses Konzepts. Um 1930 entwickelte der britische Arzt und Chirurg Edward Bach die so genannte Bachblütentherapie. Bach ging von 38 grundlegenden Gemütszuständen aus, die uns Menschen aus dem Gleichgewicht bringen. Mithilfe seiner Blüten ließe sich das Gleichgewicht wiederfinden, und die Seele könne sich nach ihrem ursprünglichen Plan entfalten. Im Unterschied etwa zur Homöopathie werden für die Gewinnung der Bachblüten keine pflanzlichen Substanzen extrahiert, sondern die Essenz der Kräuter wird lediglich durch Erhitzen oder durch Sonneneinstrahlung gewonnen. Wasser dient als Trägermedium. Während jeder Mensch eine eigene Seele besitze, würden Pflanzen über eine Art Gruppenseele verfügen, sagte Bach. Seine Pflanzen betrachtete er als „Göttliche Heilkräuter“ und „Seelenhelfer“. Edward Bach war kein verfrühter Hippie-Spinner, sondern – auch wenn eine Wirkung seiner Blüten in klinischen Studien nicht nachgewiesen werden konnte – ein medizinischer Vordenker. Bereits vor mehr als 100 Jahren machte er im Darm produzierte Gifte für zahlreiche Krankheiten verantwortlich, stellte sozialmedizinische Fragen, untersuchte die krankmachende Wirkung von schlechten Arbeitsbedingungen und beschäftigte sich mit möglichen seelischen Ursachen von chronischen körperlichen Krankheiten.
Bachblüten lassen sich dem Konzept der Schwingungsmedizin zuordnen, bei dem durch Resonanzphänomene die Eigenregulation bei Menschen oder Tieren in Gang gesetzt werden soll. Auch die Homöopathie macht sich die Eigenschaft des Organismus zunutze, auf Reize autoregulatorisch zu reagieren. Von den unterschiedlichen angenommenen Wirkungsweisen von Arzneimitteln bedient sie das Ähnlichkeitsprinzip: „Behandle Ähnliches mit Ähnlichem.“ Dieses ist auch in unseren Breiten etabliert. Das, was die exakte Wissenschaft an der Homöopathie erbost und was sie mit zahlreichen wiederkehrenden Studien abmahnt, ist nicht das Ähnlichkeitsprinzip sondern die Verdünnung der Inhaltsstoffe. Hahnemann nahm an, dass durch das besondere Verfahren der „Potenzierung“ oder „Dynamisierung“ eine „im inneren Wesen der Arzneien verborgene, geistartige Kraft“ wirksam werde. Bis zur Potenz D24 lassen sich noch chemische Bestandteile der Ausgangssubstanz im homöopathischen Mittel nachweisen. Bei höheren Potenzen, so das homoöpathische Konzept, ist nur noch deren feinstoffliche Information enthalten.
Werden in der Schulmedizin nur handfeste Formeln akzeptiert und fallen „verborgene geistartige Kräfte“ unter die Rubrik Scharlatanerie, ist letzteres das Spielfeld des Schamanismus. Im Schamanismus geht man von davon aus, das jede Pflanze, jedes Tier, jeder Stein von eine unsichtbaren Schöpferintelligenz beseelt ist. Die Aufgabe eines Schamanen ist es, diese Welt der Spirits, den Geist in den Dingen, mit der körperlichen, psychischen und mentalen Welt in Einklang zu bringen. Der Schamane versteht sich dabei lediglich als Medium für die Heilkräfte.
Geht man in den meisten Heilkonzepten davon aus, dass sich die Heilkraft einer Pflanze im Organismus entfaltet, nachdem diese eingenommen oder über die Haut oder Schleimhäute aufgenommen wurde, ist die Einnahme von Kräutern im Schamanismus nur eine von mehreren möglichen Übertragungsmöglichkeiten. Der Schamane kann bei einer Reise in das spirituelle Energiefeld der Pflanze deren Heilkraft zurücktransportieren und mittels Händen, Atem oder Gesang auf den Kranken übertragen. Er will die Heilwirkung der Pflanze aber auch verfügbar machen, indem er sie selbst als Tee oder kauend einnimmt. Im Schamanismus kann auch eine Pflanze hilfreich sein, die keinerlei Wirkstoffe beinhaltet. In diesem Fall fungiert das Kraut als Medizinpflanze oder pflanzlicher Verbündeter, mit dessen spiritueller Energie der Schamane arbeitet. Die Pflanze ist dann der Träger der heilenden Kräfte des Schamanen und seiner spirituellen Helfer.
Das eingangs erwähnte Motto „gegen jede Leid ist ein Kraut gewachsen“ stellt den Menschen und seine Beschwerden in den Mittelpunkt der Welt. Wie eine tibetische Anekdote erzählt, kann man die Welt aber auch aus einer demütigeren Perspektive betrachten: „Eines Tages bat der Meister seine Schüler, aufs Land zu ziehen und alles, was sie nicht für Medizin hielten, zurückzubringen. Innerhalb einiger Stunden kehrten die meisten von ihnen mit ein paar vermeintlich nutzlosen Pflanzen oder mineralischen Substanzen zurück. Nach mehreren Tagen erschien der letzte der Schüler staubbedeckt, erschöpft und mit leeren Händen. Ehrfürchtig erklärte er dem Meister: Ich schaute überall, aber ich konnte nichts entdecken, was nicht Medizin wäre. Der Meister lobte seinen Schüler dafür, dass er erkannt habe, dass jede Substanz über einen medizinischen Wert verfüge.“
Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose, und ein Kraut ist ein Kraut ist ein Kraut. Egal, ob wir Pflanzen als Kohlehydrat-reiche Lieferanten von Ballaststoffen, Flavonoiden und Alkaloiden betrachten, die es zu extrahieren gilt, als Träger komplexer Wirkmechanismen, als die vergängliche Herberge von Spirits, die sich an gut gelaunten Sammlern erfreuen oder Teile einer Gruppenseele: Sie wachsen und gedeihen und dienen uns als Nahrung, Kleidung, Bausubstanz und zur Heilung – ungeachtet unserer Welterklärungskonzepte. (Ulli Moschen)