Slow down

„Der Mensch von heute hat nur ein Einziges wirklich neues Laster erfunden: die Geschwindigkeit“, schrieb Aldous Huxley vor beinahe 80 Jahren.

Noch nie war die Lebenserwartung so hoch wie heute. Noch nie stand den Menschen folglich soviel Lebenszeit zur Verfügung. Nicht zuletzt, weil es noch nie es so viele Maschinen gab, die uns Arbeit abnehmen. Trotzdem klagen immer mehr Menschen darüber, dass sie keine Zeit haben. Stress ist omnipräsent. Nicht der Computer, nicht das Handy, nicht das Auto sind die Schlüsselmaschinen unseres Zeitalters, sondern die Uhr.
Und mit Blick darauf, scheint nichts so aktuell, wie keine Zeit zu haben. Dabei sprachen wir schon vor 30 Jahren von einer kommenden Freizeitgesellschaft, einer Spaßgemeinschaft, in der es dem Einzelnen erlaubt sein würde, weit weniger zu arbeiten und wesentlich mehr Freizeit zu haben. Doch irgendwie kam alles anders: trotz zunehmender Technologie, Digitalisierung, Robotern, Industrie 4.0 und künstlicher Intelligenz scheint sich die Zeit zu beschleunigen. Subjektiver Stress und objektive Überforderung gehen Hand in Hand.
Ständige Erreichbarkeit ist mittlerweile in fast alle Bereiche des Lebens vorgedrungen. Es vergeht kein Tag, an dem nicht zahlreiche Anrufe, Nachrichten oder E-Mails eintrudeln und die Aufmerksamkeit der Nation verlangen. Diese Dauerberieselung mit Informationen hat zunehmend ihre Schattenseiten, wie nun auch das Meinungsforschungsinstitut Marketagent.com in einer repräsentativen Umfrage herausgefunden hat: Über 70 Prozent der Menschen fühlen sich von Informationen überflutet – im Privat- wie im Berufsleben. Und sie fühlen sich reizüberflutet. Das Smartphone ist in der Hosen- oder Handtasche immer dabei und wird von allen Altersgruppen mehrmals stündlich überprüft. Die jüngste abgefragte Altersgruppe der 14-19-Jährigen hat hier mit bis zu neunmal stündlichem Blick auf das Mobiltelefon die Nase vorne. Mehr als ein Drittel der Österreicher geben sogar zu, mehrmals in der Stunde zum Smartphone zu greifen, wenn sie daheim vor dem Fernseher sitzen. Stress (49 %), Müdigkeit (48 %) und Reizbarkeit (47 %) zählen zu den am häufigsten wahrgenommenen Symptomen der ständigen Reizüberflutung.
Zudem verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben immer mehr, was auch von 74 Prozent der Befragten so wahrgenommen wird. Jeder zweite befragte Büroangestellte kann etwa nach Dienstschluss nicht abschalten und gibt an mindestens einmal pro Woche nach der Arbeit noch erreichbar zu sein. Zwar werden im Mittel nur 38 E-Mails pro Tag erhalten, jedoch sind sich die Befragten sicher, die Mehrheit der beruflichen Mails bedürfen unbedingt persönlicher Bearbeitung (56%). Interessantes Detail in diesem Zusammenhang: Treffen neue E-Mails im Posteingang ein, klicken immerhin 23% sofort auf die Benachrichtigung. Gründe für den Drang nach permanenter Informationsaufnahme könnten im Verständnis der modernen Arbeitswelt liegen. Mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen (94%) sowie ein steigender Grad an Komplexität gehören im Job für die Mehrheit zur Norm (93%), fasst Thomas Schwabl, Geschäftsführer von Marketagent.com zusammen. Ebenfalls hohe Zustimmung fanden die ständige Erreichbarkeit (81%) und die Veränderung als fixer Bestandteil der heutigen Arbeitswelt (82%) bei den Befragten.
Die Umfrage bestätigt auch eine anderen neue Untersuchung der Technischen Universität (TU) Wien und der Arbeiterkammer Niederösterreich, die zum Ergebnis kommt, dass das Smartphone die Abgrenzung von Beruf und Privatleben erschwert. Demnach schauten Teilnehmer der Studie durchschnittlich 84 Mal pro Tag auf ihr Handy – ungefähr alle 13 Minuten, während sie wach waren.
Die Wissenschafter haben von rund 150 Studienteilnehmern einerseits Fragebögen und Kurztagebucheinträge ausgewertet. Andererseits wurde von der Forschungsgruppe Industrial Software der TU Wien eine App entwickelt, die automatisch deren Smartphone-Nutzungsdaten aufzeichnet. Indem die Experten zwei Arten von Datensätzen kombinierten, konnten sie überprüfen, ob die Eigeneinschätzung mit dem tatsächlichen Nutzungsverhalten übereinstimmt.
Anhand dieser Daten haben die Forscher die Studienteilnehmer in Gruppen mit moderater, mittelmäßiger und intensiver Smartphone-Nutzung eingeteilt, die sich zum Teil signifikant unterschieden: „Wer das Handy weniger nutzt, ist zufriedener – und zwar sowohl mit seinen Arbeitstagen als auch mit den freien Tagen“, erklärte Martina Hartner-Tiefenthaler vom Institut für Managementwissenschaften der TU Wien. Dagegen würden sich intensive Smartphone-User weniger gut in ihre Arbeit vertiefen können, sich aber auch häufiger gelangweilt fühlen. Sie gaben häufiger an, an freien Tagen unter Zeitdruck und Stress gestanden zu haben, und seien öfter gereizt oder verärgert.
Doch das ist längst nicht das einzige Problem. Denn die digitale, vernetzte, interaktive Arbeit geht zudem auch mit hohen Effizienzverlusten einher: Beschäftigte machen 30 Prozent mehr Überstunden als noch vor fünf Jahren, um ihr Tagwerk zu schaffen; die Produktivitätseinbußen steigen auf 30 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt eine groß angelegte Online-Studie der AKAD Hochschule Stuttgart in Zusammenarbeit mit der tempus GmbH, an heuer über 1.200 Angestellte, Entscheider und Selbstständige teilnahmen. Ergebnis der Studie: Weniger als die Hälfte aller Beschäftigten kann konzentriert arbeiten. Durch permanente Ablenkung haben 84 Prozent den Eindruck, zu viel zu arbeiten, ohne dass es genügt.
„Digitales, interaktives Arbeiten bedeutet, sich mit zahlreichen Informationen und Anforderungen gleichzeitig auseinanderzusetzen. Der Einzelne ist davon schnell überfordert und wird unzufrieden, weil er mit viel Arbeit nur wenig erreicht“, sagt Studienleiter Daniel Markgraf: „Gaben die Befragten in der Arbeitseffizienzstudie von AKAD und Tempus 2013 an, durchschnittlich sechs Überstunden pro Woche zu leisten, sind es nun bereits 7,5. Im Grunde sind wir zur 6-Tage-Woche zurückgekehrt“, bringt es der Professor für Marketing und Innovationsmanagement auf den Punkt. Tempus-Geschäftsführer Jürgen Kurz ergänzt: „Nach meiner Erfahrung nutzen die Menschen digitale Instrumente und Hilfsmittel viel zu wenig, um sich die Arbeit zu erleichtern. Die gestiegene Ineffizienz trotz der immer besser werdenden Technik und den mobilen Möglichkeiten macht die Mehrarbeit zunichte, die Produktivität sinkt ungeachtet aller Anstrengungen.“
Die niederösterreichische Studie beobachtet zudem gesundheitliche Folgen: intensive Handy-Nutzer haben signifikant häufiger chronische Nackenschmerzen. Andere Studien zeigen außerdem, dass Augenerkrankungen zunehmen. Die Folgen sind aber noch viel gravierender: Forscher der Medizinuniversität Wien, der Budapester Semmelweis-Universität, des Karolinska-Instituts in Stockholm und der amerikanischen Yale-Universität haben im Rahmen internationaler Zusammenarbeit einen neuen, für die verzögert eintretende Stressreaktion und die Langzeitwirkungen von Stress verantwortlichen Prozess im Gehirn identifiziert: Über das Hirnwasser wird mit einer zehnminütigen Verzögerung nach dem Auftreten von „Gefahr“ derjenige Hirnbereich aktiviert, der auf den Stress reagiert und für das weitere Verhalten verantwortlich ist.
Bisher waren zwei Hauptstressmechanismen des Hirns bekannt, erklärt Tibor Harkany von der Abteilung für Molekulare Neurowissenschaften am Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien: „Für die Auslösung beider Mechanismen ist eine im Hypothalamus befindliche Nervenzellengruppe verantwortlich. Der eine Prozess ist ein hormoneller Weg, bei dem letztendlich über den Blutstrom aus der Nebenniere heraus innerhalb von Sekunden nach der Stresseinwirkung Hormone freigesetzt werden. Der andere Prozess, der Weg über die Nerven, ist noch schneller. In seinem Verlauf kommt es in Sekundenbruchteilen zu einer unser Verhalten entscheidend beeinflussenden direkten Nervenverbindung in Richtung des präfrontalen Cortex‘.“ Die Forscher haben nun festgestellt, dass dieselben Nervenzellen auch fähig sind, auf einem dritten Weg eine Stressreaktion auszulösen, deren Wirkung außerdem um einiges später auftritt und dauerhaft ist.
Der nun beschriebene, völlig neue Mechanismus läuft über das Hirnwasser ab. Dabei gelangt auch ein für die Entwicklung und Instandhaltung des Nervensystems wichtiges Molekül, das im Hirnwasser kreist, zur Stresszentrale. Da es um einen sich mit dem Hirnwasser ausbreitenden Mechanismus geht, ist er viel langsamer als der über den Blutstrom ablaufende Prozess. Im Hirnwasser wird der Stoff langsamer verdünnt und kann deshalb seine Wirkung länger andauernd entfalten. Die im Hirnwasser befindlichen Moleküle hingegen bombardieren die Nervenzellen des Stresszentrums, die den präfrontalen Cortex kontinuierlich wach halten, unaufhörlich. In dessen Folge kommt es zu einem wacheren Zustand des Nervensystems mit einer höheren Reaktionsfähigkeit.
Die Entdeckung des neuen Prozesses kann, so das Forscherteam, neue Perspektiven für das Verständnis der Entstehung des posttraumatischen Syndroms eröffnen. Der Umstand, dass aus akutem Stress ständiger, chronischer Stress wird, und sich etwa in einem Burnout äußert, bedeutet für die menschliche Gesellschaft eine ernsthafte Herausforderung. „Das Verständnis des dahin führenden nervlichen Prozesses kann neue Optionen zur Behandlung dieser neuropsychiatrischen Erkrankungen eröffnen“, betont Tibor Harkany.
Hartner-Tiefenthaler empfiehlt in ihrer Studie vor allem einen bewussteren Umgang mit dem Smartphone, etwa die Festlegung von E-Mail- und Smartphone-freien Zeiten. Auch mit dem Arbeitgeber sollte man klären, welche Art von Erreichbarkeit erwartet wird, um Stress und Ärger zu reduzieren. Eine strikte Trennung von Beruf und Privatleben ist ihrer Meinung nach aber nicht unbedingt notwendig. „Manchmal ist die Organisation des Alltags einfacher, wenn Grenzen nicht zu strikt gezogen sind. Manche Leute berichten, dass sie die Freizeit besser genießen können, wenn sie noch eine wichtige Kleinigkeit erledigt haben“, sagt Hartner-Tiefenthaler. (Martin Rümmele)