Musik als Nahrung für Hirn und Herz
Musik stimuliert unsere Gehirnaktivitäten, beeinflusst unseren Hormonhaushalt. Schon Singen kann enorme Prozesse auslösen.
Schauplatz Senioreneinrichtung. Ein Singkreis. Eine Demenzkranke, die schon lange nicht mehr spricht und kaum auf soziale Interaktionsversuche reagiert, scheint nach ein paar Takten eines Volkslieds plötzlich zum Leben zu erwachen. Sie stimmt in den Gesang mit ein und singt die restlichen Strophe mit.
Musiktherapeuten führen dieses Phänomen- die Wirkung von Musik- auf komplexe physiologische ebenso wie biografische Ursachen zurück. Denn Musik stimuliert unsere Gehirnaktivitäten, beeinflusst unseren Hormonhaushalt und gilt nicht von ungefähr als das emotional wirksamste Medium unserer Kultur. Schon Singen allein setzt beeindruckende Prozesse in unserem Körper in Gang.
Singen führt zu einer erhöhten Produktion des Bonding-Hormons Oxytocin, das in der Lage ist, Gefühle von Vertrauen und Geborgenheit hervorzurufen. Außerdem werden durch das Singen Stresshormone wie vermehrt abgebaut und die Ausschüttung von Aggressionshormonen gehemmt. Durch die Stimulation der Amygdala, welche die Überlebensreaktionen Kampf, Flucht und Erstarrung reguliert, wirkt Singen Angstgefühlen entgegen. Die intensivierte Atmung beim Singen erhöht nicht nur die Sauerstoffversorgung der Lunge und die sämtlicher anderen Organe, sondern unterstützt die Lunge auch in ihrer Funktion als Entgiftungsorgan. Ein erhöhter Körpertonus belebt unseren Kreislauf, und sogar unser Immunsystem profitiert davon, wenn wir unsere Stimme erheben: In einer Studie an der Johann-Wolfgang-Universität Frankfurt am Main konnte der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz belegen, dass die Immunglobulin-A-Konzentration nach dem Singen signifikant steigt.
Wenn wir Musik hören oder selbst musizieren, wird unser ganzes Gehirn stimuliert. Anders als bei der Verarbeitung und Produktion von Sprache gibt es kein Gehirnareal, das explizit für Musikalität zuständig ist. Vielmehr deuten alle Forschungen darauf hin, dass musikalische Fähigkeiten im Gehirn vielfältig vernetzt sind. Musik initiiert eine umfassende Stimulation des Gehirns. Sie aktiviert alle vier Hirnareale, also auch das Broca-Areal und das Wernicke-Zentrum, welche für die Sprachverarbeitung und –produktion zuständig sind. Melodien sprechen vermehrt die rechte Gehirnhälfte und Rhythmen die linke Gehirnhälfte an. Die Kombination von beiden synchronisiert die beiden Gehirnhälften.
Wissenschafliche Untersuchungen haben ergeben, dass aktives aber auch passives Musizieren unabhängig vom Lebensalter die Vernetzung unter den Nervenzellen fördert. Das erklärt zum einen, warum Musik einen höchst positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kindern hat, zum anderen auch warum Musik den typischen Folgen von Demenz, nämlich dem Verfall und Verlust von Nervenzellen, entgegenwirken kann.
Von unseren fünf Sinnen ist unser Gehör schon im Mutterleib der erste Sinn, mit dem wir die Welt wahrnehmen. Die Hörschnecke ist etwa nach 22 Wochen voll ausgereift und das Kind hört den Herzschlag der Mutter, ihre Atmung, Magen- und Darmgeräusche. Geräusche von außen kann der Embryo stark gedämpft durch Bauchdecke, Gebärmutter und Fruchtwasser wahrnehmen. Lange bevor wir als Kleinkinder sprechen lernen, lernen wir zuzuhören. Musik mobilisiert unser Hörgedächtnis, das heißt die Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig im Gedächtnis zu behalten. Durch das Merken mehrerer Zeilen oder Strophen von Liedern oder Reimen wird das Erinnern trainiert und damit außerdem die Fähigkeit unterstützt, längere Sätze zu bilden. Umgekehrt reorganisiert sich unser Gehirn, wenn Geräusche ausbleiben, was zu einer Einschränkung unserer Merkfähigkeit führen kann. Für Kinder ist Musik außerdem untrennbar mir Bewegung verbunden. Die Kombination fördert das Zusammenspiel der Sinne und damit die sensorische Integration. Aber nicht nur entwicklungspsychologische Aspekte sind bei der Vermittlung von Musik von Belang. Musik, Spiele und Tanz sind auch immer Teil einer Kultur und laden zur Identifikation damit ein.
Musiktherapeuten nutzen für ihre Arbeit dieses Wissen, um, wie es im Musiktherapiegesetz heißt, „bewusst und geplant Menschen mit emotionalen, somatischen, intellektuellen oder sozial bedingten Leidenszuständen mithilfe musikalischer Mittel zu behandeln. In Österreich praktizierenden rund 300 Musiktherapeuten im Einzel- oder Gruppensetting mit und ohne Instrumente und Bewegung, in der Prävention ebenso wie in der Rehabilitation. Therapiert wird „Eine der Stärken der Musiktherapie ist ihr Potenzial zur intermodalen Verknüpfung, das heißt sie fördert das Zusammenspiel der Sinne“, erklärt Musiktherapeutin Claudia Waldhuber. „Verschiedene Wahrnehmungsbereiche, das Hören, Sehen und Spüren, werden verknüpft und in Übereinstimmung gebracht. Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, das Bewusstsein der eigenen Körpergrenzen und des eigenen Tuns wird sehr früh ausgebildet. Sind diese Fähigkeiten zu wenig entwickelt, kann Musiktherapie beim Nachreifen unterstützen. Indem ein Kind oder eine erwachsene Person in Beziehung zu einem Instrument tritt, und sich explorierend darin vertieft, kann es/sie zum Beispiel Selbstwirksamkeit erleben.“
Mittlerweile weiß man, dass sich ein musikalisches Training in der Kindheit nicht nur positiv auf die kindliche Entwicklung auswirkt, sondern dass sich frühes Musizieren sogar noch im Alter bezahlt macht, denn der Grundstein für die neuronale Leitungsgeschwindigkeit und die Fähigkeit, auf Geräusche zu reagieren, wird bereits im Kindesalter gemacht.
Beim gemeinsamen Singen und Musizieren ist die Auswahl der Musik entscheidend, denn Musik wird nicht kontextlos rezipiert. Bei einer Demenz ist meist das Kurzzeitgedächtnis am stärksten betroffen. Biografische Inhalte bleiben jedoch länger erhalten, und an diese gilt es anzudocken. „Über vertraute Lieder wird die Erinnerung an die mit ihnen verknüpfte Zeit geweckt“, sagt Waldhuber. „Das Singen kann ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen auslösen. Über die Lieder und die damit assoziierten Erinnerungen kann wieder ein Bezug zur eigenen Identität gefunden werden.“
Auch neurophysiologisch lässt sich erklären, warum die Arbeit mit Musik etwa bei Demenzkranken so wirksam ist. Schallwellen werden über das Ohr in elektrische Impulse umgesetzt und in die Gehirnrinde geleitet, vorbei am Stammhirn, das der Sitz unserer Emotionen ist. Und alles was vom Gehirn mit Emotionen verknüpft wird, wird als wichtig gespeichert und damit leichter erinnert. „Musik weckt ein Gefühl von Verbundenheit, und zwar nicht nur mit unseren Mitmenschen, sondern auch mit uns selbst, denn sie ist in der Lage vergangene Gefühle und Lebensgefühle wach zu rufen“, sagt Waldhuber. „Indem sie uns mit unserer eigenen Biografie verbindet, übernimmt Musik eine Brückenfunktion. Nicht nur zwischen innen und außen, sondern auch zwischen Gegenwart und Vergangenheit.“ (Ulli Moschen, LW2017)